„Der Herr zog mich aus der grausamen Grube und aus dem Schlamm und stellte meine Füße auf einen Fels, daß ich gewiß treten kann.“ Psalm 40.2
„Wer Menschen sucht, wird Akrobaten finden,“ schreibt Peter Sloterdijk, um den es hier gar nicht geht. Aber wenn man einen ähnlich pikanten Merksatz über Julian Nida-Rümelins opus magnum finden möchte, muss man ihn selber machen, denn im Buch selbst findet man ihn leider nicht. Und so möchte ich vorschlagen, seine „Theorie praktischer Vernunft“ in folgender Faustformel zusammen zu fassen: „Wer Menschen sucht, wird Begründer finden.“
Das ist vielleicht auf den ersten Blick ein wenig wenig für ein opus magnum, aber gerade aus humanistischer Sicht trügt dieser Eindruck. Es geht Nida-Rümelin nämlich u.a. auch darum, Debatten auch dann auf guten Gründen fußen zu lassen, wenn diese Gründe nicht durch „Rückgriff auf ein apriorisches und fundamentalistisches Begründungskonzept“ funktionieren (S. 313). Wer jetzt verwundert der Kopf wiegt und sich fragt, was das heißen soll, dem geht es wie mir während eines Großteils der Lektüre.
Das liegt an der Sprache, die leider nicht zu einer flüssigen Lektüre einlädt. Während man bei anderen Autor*innen das Gefühl haben mag, sich mit ihm/ihr unterhalten, oder sich von der Wortgewalt mitreißen zu lassen, ohne genau zu verstehen, worum es eigentlich geht ist die Lektüre dieses Textes eher mit dem Voranschieben einer Schubkarre auf sandigem Grund zu vergleichen. Mitunter nimmt die Sache Fahrt auf und es macht Spaß, der Argumentation zu folgen. Recht zügig bleibt man dann aber in sprachlichen Sandhügeln wie folgendem stecken „es gibt einen subkutanen Atomismus in der analytisch geprägten Philosophie“ (S. 3) und verliert dann zumindest kurzzeitig jegliche Lust am Weiterschieben.
Zudem stolpert man über anstrengende Widersprüche, wenn der Autor z.B. einerseits schreibt: „Rational choice …. ist inhaltlich neutral“ (S. 104) und dann ein paar Seiten später „entgegen ihrem Selbstverständnis ist die zeitgenössische rational choice Orthodoxie keineswegs inhaltlich neutral“ (S. 127). Dass der Autor im Vorwort damit droht, dass man im Grunde das ganze Buch gelesen haben muss, um es zu verstehen (S. 1) entmutigt da noch um so mehr.
Zurück aber zum oben zitierten Satz über apriorische Begründungskonzepte. A priore ist Latein und bedeutet, dass es ein Erstes bereits gibt, auf dem das Folgende aufbaut. Apriorisch sind Gründe, die z.B. religiösen Menschen aufführen, wenn sie behaupten, ein übersinnliches Wesen habe auslösend für alle weiteren Entwicklungen alles geregelt und es gelte nur, seine Regeln zu erkunden und nach ihnen zu leben. Das ist für säkulare Humanist*innen nicht nachvollziehbar. Die neigen nun umgekehrt häufig dazu zu sagen, jeder müsse „für sich selbst“ wissen, was richtig sei. Dass das für eine allgemeine Ethik ein wenig dürftig ist, sollte unmittelbar einleuchten. Auch der besonders bei nicht-humanistischen Atheisten zu beobachtende Versuch, eine naturalistische Ethik denken zu wollen kann nicht weiterhelfen. Die Natur teilt uns nur das über sich mit, was wir sie fragen und wir dürfen deswegen auch von ihr keine apriorischen Antworten erwarten (S. 93ff.).
Und so wartet Nida-Rümelin mit zwei interessanten Konzepten auf, von denen er erhofft, dass sie Leitfäden für eine humanistische Argumentation in der ethischen Debatte sein könnten. Humanistisch bedeutet dabei, „Autorin oder Autor des eigenen Lebens zu sein“ (S. IX f.).
Da ist zum einen die Idee der Lebenswelt, die eigentlich ganz pfiffig ist, weil sie die „Normativität der geteilten menschlichen Lebensform“ beschreibt (S. 106). Es gibt, wie jeder weiß, z.B. „Tatsachen, die sich nicht algorithmisch überprüfen“ lassen (S. 349), die in der menschlichen Lebenswelt aber real sind. Wer den Maßstab der Lebensweltlichkeit an Behauptungen ansetzt kann recht schnell zu einem schlüssigen Ergebnis kommen, ob und wenn ja wozu sie unter menschlichen Bedingungen taugen. Leider bleibt dieses Argument zugleich auch immer ein wenig undurchsichtig, so dass es zumindest mir schwer fällt, aus dem Konzept der „Lebensweltlichkeit“ belastbare Argumentationen zu bauen.
Das andere Konzept ist das der Gründe. Wenn apriorische Lebensanweisungen bei allem Suchen nicht vorfindbar sind, muss im Gespräch geregelt werden, was Geltung haben kann und soll und was nicht. Unter Philosophen hat man sich seit einiger Zeit angewöhnt, in diesem Kontext von „Deliberation“ (lat.: Abwägung) zu sprechen.
Der Witz an Gründen ist für Nida-Rümelin aber nun, dass sie „immer zugleich normativ und inferentiell“ sind (S. 33). „Gründe stiften einen Zusammenhang zwischen Tatsachen (von denen wir überzeugt sind) und Vermutungen, dass etwas der Fall ist“ (S. 33). Und das ist ja in der Tat eine wichtige Sache: denn wenn wir weder rein apriorisch noch rein individuell argumentieren können und wollen, könnte es klug sein, eine Schnittmenge von beiden zu suchen. Nida-Rümelin findet sie in besagten Gründen, mit deren Hilfe eine gelungen Deliberation stattfinden könne.
Ich finde allein schon das Wort „Gründe“ hilfreich, denn in der Tat ist gerade eine ethische Argumentation beim wahrsten Sinne des Wortes bodenlos, wenn sie ohne aprioische Verweise auskommen muss. Wer nicht sagen kann „Gott / die Natur / etc. will das so“ läuft argumentativ auf einem anderen Boden, einem anderen Grund, als der, der das behauptet. Oder, um es mit Francisco Varela zu sagen: „Aus einer philosophischen und ethischen Perspektive muss jemand, der ohne Bezugspunkt leben muss – ohne Boden, mit dem Gefühl der Bodenlosigkeit – Lernprozesse in Gang setzen, um diese Situation zu bewältigen.“[1] Eine Bewältigungsstrategie könnte dann tatsächlich sein, seine Gründe behutsam abzuwägen.
Ob das mit den Gründen allerdings letztlich so hinkommt, sehe ich mit meiner lebensweltlichen Erfahrung skeptisch. Erst neulich klagte mein Sohn (8), meine Frau und ich könnten immer alles begründen – Zähne putzen, Hausaufgaben machen, Jacke anziehen etc. – und trotzdem sei das nicht akzeptabel. Quasi apriorisch. Philosophisch gesagt kann das nur heißen: Gründe zu geben alleine ist nicht wirklich deliberativ.